30.04.2017 |
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Der vorliegende Fall beschreibt einen äußerst komplexen Krankheitsverlauf eines 2017 diagnostizierten,
de-novo metastasierten Prostatakarzinoms (Gleason-Score 9) mit synchroner Knochenmetastasierung.
Bei Diagnosestellung im Alter von 55 Jahren zeigte sich bereits eine polymetastasierte Ausbreitung
in Beckenknochen, Rippen und Brustwirbelsäule, klassifiziert als Hochrisikokonstellation
nach LATITUDE- und CHAARTED-Kriterien.
Bemerkenswert ist der über achtjährige Verlauf unter permanenter Palliativtherapie bei gleichzeitigem PSA-Ansprechen
unter Nachweisgrenze seit 11/2017, was einen paradigmatischen Widerspruch zwischen biochemischer Remission und
klinisch-bildgebender Progression darstellt.
Diagnostische Initialphase und Risikostratifizierung
Pathohistologische Charakteristika
Die Erstdiagnose erfolgte Juli 2017 durch transrektale Biopsie mit Gleason-Score 7b (4+3), postoperativ jedoch
Upgrading auf Gleason 9 (4+5) nach radikaler Prostatektomie.
Histologisch zeigten sich perineurale Invasionen (Pn1), Kapseldurchbruch (pT3a) sowie Resektionsrandbefall (R1) an
vesikaler und peripherer Präparategrenze. Die innere Revision des Präparats offenbarte eine ausgedehnte
Tumorinfiltration mit 7 von 12 Stanzen tumorbefallen und bis zu 90%iger Karzinominfiltration einzelner Zylinder.
Metastasierungsmuster
Das initiale Staging mittels Knochenszintigraphie und MRT dokumentierte osteoplastische Metastasen im
linken Os ilium (1.9×0.9×1.8 cm), multiplen Brustwirbelkörpern (3-10 mm) sowie Rippen 5 und 7 dorsal.
Die Einstufung als "High volume" gemäß CHAARTED erfolgte bei ≥4 Knochenmetastasen mit extraspinaler
Lokalisation, ergänzt durch LATITUDE-Hochrisikomerkmale (Gleason ≥8 + ≥3 ossäre Läsionen).
Biochemisches Profil
Das initiale PSA von 59.64 ng/ml (05/2017) korrelierte mit der tumorösen Gesamtlast, wobei postoperativ trotz R1-Resektion ein
PSA-Abfall unter Nachweisgrenze (≤0.01 ng/ml) erreicht wurde. Dieser biochemische Erfolg kontrastiert mit der
bildgebenden Progression ossärer Läsionen ab März 2018, was auf eine PSA-unabhängige
Tumorprogressionsdynamik hinweist.
Therapiestrategien und Verlaufsdynamik
Primäre interventionelle Ansätze
Trotz primärer Inoperabilität erfolgte Oktober 2017 auf Patientenwunsch eine radikale retropubische Prostatektomie mit
pelviner Lymphadenektomie (18 entfernte Lymphknoten, pN0)
Postoperative Komplikationen umfassten Lymphozelenbildung (Notfallrevision November 2017) und Wunddehiszenz
Dies illustriert die Diskrepanz zwischen onkologischer Rationale (kein kurativer Ansatz bei M1b-Stadium) und
patientenseitigem Autonomiestreben.
Systemische Hormontherapie
Die androgenablationistische Behandlung begann mit Bicalutamid (07-08/2017), gefolgt von kontinuierlicher
Leuprorelin-Gabe seit Juli 2017
März 2018 erfolgte die Erweiterung um Abirateron über 40 Monate bis Juli 2021, später substituiert durch Apalutamid
(09-11/2021). Trotz laborchemischem Ansprechen (PSA ≤0.01 ng/ml ab 2018) zeigten sich unter laufender
Hormontherapie ossäre Progressionszeichen, was auf klonale Selektion androgenunabhängiger Subpopulationen
hindeutet
Strahlentherapeutische Interventionen
Ab 2018 erfolgten multiple palliative Radiatio-Episoden:
1. Beckenbestrahlung März 2018 bei zunehmender Schmerzsymptomatik
2. Thorakale Wirbelsäulenbestrahlung Juni 2018 (multifokale BWS-Läsionen)
3. Bestrahlung der Prostataloge September 2018 trotz R1-Resektion
4. Rippenbestrahlungen Juli 2019 und Juni 2024
Die wiederholten Bestrahlungen außerhalb leitliniengerechter Indikationen (z.B. bei polymetastatischem Setting)
reflektieren einen symptomorientierten Ansatz bei limitierten systemischen Optionen
Palliativmedizinische Herausforderungen
Schmerzmanagement
Seit 2019 erforderte die ossäre Metastasierung eine stufenweise Opioid-Eskalation:
• 09/2019-08/2023: Hydromorphon retardiert + Palladon akut
• 09/2024: kurzzeitig Buprenorphin-Pflaster
• 09/2019-10/2024 Zusatzanalgetika: Pregabalin, Amitriptylin
Aktuell nur noch eine Bedarfsmedikation mit Naproxen 500 (seit 06/2024) und Novaminsulfon 500 (seit 02/2024);
ohne Opiate!
Paradoxerweise entwickelten sich unter Apalutamid 2021 exazerbierte Knochenschmerzen mit Immobilität, was zum
Therapieabbruch führte.
Supportivtherapien
• Bisphosphonat-/Denosumab-Gabe (2017-2022)
• Sauerstofflangzeittherapie bei hypoxämischer Ateminsuffizienz 2021
• Lymphödemmanagement nach pelviner Bestrahlung
• Psychoonkologische Begleitung kurzzeitig durch SAPV ab 2019
Komplikationsmanagement
Urologische Komplikationen
Lymphozelen (2017) erforderten eine chirurgische Fensterung. Die chronische Harnwegsobstruktion
bei pelviner Tumorinfiltration bedingte intermittierende Katheterisierungen.
Orthopädische Manifestationen
Spinalkanalstenosen (LWK 3/4 2021) und pathologische Frakturrisiken an metastatischen Rippenläsionen
(2024-Re-Bestrahlung) dominierten die funktionelle Beeinträchtigung.
Systemische Toxizitäten
Unter Abirateron traten Hypokaliämien (Notfall Juli 2021) auf, während Apalutamid eine gewünschte Gewichtsabnahme
(-15 kg/10 Wochen) induzierte. Die chronische Opioidgabe führte zu einer obstipationsbedingten Notaufnahme (02/2020).
Pulmonale Komplikationen
Fibrosierende Alveolitis unklarer Genese (J84.10 G) (02/2025)
Prognostische Einschätzung
Trotz initialer Hochrisikomerkmale (Gleason 9, Hochvolumen-M1b) zeigt der Verlauf mit 8-jähriger Überlebenszeit unter
permanenter Palliation eine ungewöhnliche Langlebigkeit.
Die Dissoziation zwischen biochemischer Remission (PSA ≤0.01 ng/ml seit 2018) und klinisch-bildgebender
Progression unterstreicht die Limitationen PSA-basierter Verlaufskontrollen bei ossär dominierter Metastasierung.
Aktuelle Bildgebung (02/2024) bestätigt stabile Knochenläsionen unter Zoledronat-Therapie, während die
Langzeitneurotoxizität der Hormontherapie (kognitive Defizite, Fatigue) die Lebensqualität zunehmend limitiert.
Schlussfolgerung
Dieser Fall illustriert die Komplexität des Managements von Hochrisiko-Prostatakarzinomen mit primär ossärer
Metastasierung. Die patientenindividuellen Therapieentscheidungen außerhalb leitliniengerechter Empfehlungen
(operative Maßnahmen, Re-Bestrahlungen) werfen ethisch-methodische Fragen auf, zeigen aber gleichzeitig Potenziale
personalisierter Palliativstrategien. Die anhaltende PSA-Remission bei morphologischer Progression unterstreicht den
Forschungsbedarf zu nicht-PSA-getriebenen Progressionsmechanismen und korrelierenden Biomarkern.
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